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Wenn ein Verlag ein Buchprojekt mit Der andere Rudolf Steiner
betitelt und in der Unterzeile schreibt: Augenzeugenberichte, Interviews
und Karikaturen, dann ist die erste Reaktion: Au weia, mutig, gewagt,
armer Verlag, das wird garantiert als Demontage eines Gurus betrachtet.
Rudolf Steiner, Begründer der Anthroposophie, Urheber der
Waldorfbewegung und charismatischer Lehrer mit Tempelsitz im
Schweizerischen Dornach, gilt seinen Anhängern als eine Art
unantastbarer Heiliger. Der wahre Anthroposoph kleidet sich auch gern
schwarz wie der Meister himself (wenn nicht im Gefilzten, flattrigen
Bouretteseidigen in allen Lilaschattierungen), gibt seinem Antlitz ein
leidendes Aussehen, das Vergeistigung und Weltentrücktheit
symbolisieren soll und zitiert permanent einen Geheimcode, beginnend mit
den Worten aber in GA XY steht, im Wechsel mit Steiner
sagt. Und jetzt will das Buch uns einen anderen Steiner
vorstellen? Etwa einen lebendigen Menschen und nicht die hochstilisierte
Götterfigur?
Ja, will er und das ist eine zweischneidige Sache, die weder die
Steinerianer noch die Gegner kalt lässt. Holt man einen Mythos vom
Sockel, sprich, zerrt man ihn aus den geistigen Höhenflügen
ins irdische Dasein, lässt ihn essen, trinken, schimpfen,
menschlich müde und gar permanent finanziell abgebrannt sein, fällt
es schwer, das Bild des unantastbaren genialen Redners, dessen Glutaugen
auch die allerletzten Trübtassen in ihren Bann gezogen hat, damit
zu verbinden. Wer in Dornach den Hügel betreten durfte, dieses
gewaltige Bauwerk in Beton mit seinen leuchtenden Fenster auf sich
wirken ließ, hat annähernd eine Ahnung von der Person Rudolf
Steiner. Wer den Seelenkalender spaßeshalber mal ein Jahr lang als
täglichen Begleiter hatte, spürt hier ist ein Mensch
gewesen, der gewaltig in Sphären gegriffen hat, die Normalos
verborgen bleiben, da können sie noch so intensiv in der
Geheimwissenschaft im Umriss blättern und die Nebenübungen
machen, hellsichtig wird so schnell keiner. Und da haben wir jetzt ein
Sammelsurium an Anekdoten, Geschichten und Berichten über Steiner.
Von Freunden, von Feinden, von Leuten gar, die Steiner nie selbst
begegnet sind oder ihn zufällig trafen. Übereinstimmend
keinen hat Steiner kalt gelassen. Selbst diejenigen, denen Steiners
Thesen als kruder Quatsch vorkam, abgedrifteter Krempel zum Zweck der
Volksverdummung, Hobbyspiritismus für unbefriedigte Damen der höheren
Gesellschaft, kamen nicht umhin, sein Charisma zu spüren und zu
erkennen hier ist einer, der lebt, was er sagt, der hat Macht,
der ist überzeugt von dem, was er sagt. Man muss also genau
trennen: Rudolf Steiner als Mensch. Rudolf Steiner als Begründer
der Anthroposophie. Die Anthros mystifizieren das Unternehmen Steiner:
Die Waldorfschule, die (sehr segensreiche) Erweiterung der Heilkunst,
die Leistungen der Pflege (nirgendwo werden Menschen so intensiv
gepflegt wie in anthroposophischen Einrichtungen und Hospizen, sogar
heute noch), die Kirche (Christengemeinschaft), die Bank, die
Pharmaunternehmen (die jedes Jahr gewaltige Auszeichnungen absahnen,
weil die Produkte eben für den Menschen sind und nicht für den
Konzern). Dazu kommen künstlerische Impulse wie Sprachgestaltung,
Eurythmie, Theater, Zirkus, die an eigenen Instituten unterrichtet
werden. Ein Staat im Staat also fast und eine gewaltige Anhängerzahl,
Tendenz steigend, wer hält es schon aus zwischen G8 und G9, wer
traut sich heute zu, sich nicht in die Hand der Allmachtsmedizin zu
begeben, wenn es auch mit anderen Mitteln gehen würde, der Mensch
ist bequem, die Verantwortung hat er abgegeben, das Gehirn ebenfalls,
prima, das ist eine Masse, mit der sich wunderbar arbeiten lässt,
wie die Geschichte lehrt. Dagegen fordert Rudolf Steiner schon was
anderes von Menschen. Doch darum geht es nicht.
Vögele stellt den Menschen Steiner dar, der lebenslang eine
Schleife um den Hals trug, auch wenn sie schon am Anfang modisch out
war. Der Mann war permanent pleite und er hat zum ersten Mal geheiratet
(das erfahren Steinerianer nur, wenn sie schon weit fortgeschritten
sind, jeder kennt = verehrt Marie Steiner, Steiners zweite Ehefrau und
eine der wesentlichen Stützen des Anthroimperiums), als er
feststellte, dass er mit seinem chaotischen Leben nicht mehr klarkommt.
Die 1. Frau Steiner war also zuständig fürs Aufräumen und
dafür, ihren Gemahl ein wenig zu pushen, damit der in die Gänge
kommt, raus aus der Goetheforscherecke und endlich hin zum Lebenswerk,
ehe er als Alkoholiker mit Visionen in der Gosse endet. Das muss nicht
der schlechteste Ausgangspunkt sein. 70 bislang weitgehend unbekannte
Augenzeugenberichte vereint das Buch und es zeigt Rudolf Steiner in
vielen Facetten, vor allem aber stellt es ihn als Menschen aus Fleisch
und Blut dar, mit Fehlern, mit Schwächen, aber es zeigt auch, dass
die Zeitgenossen früh spürten, dass in ihm eine Kraft wirken
wird, die ungeahnte Ausmaße entwickeln kann. Arthur Schnitzler,
Rosa Mayreder, Gabriele Reuter, Albert Schweitzer, Annie Besant, Franz
Kafka, Walther Rathenua, Hans Kühn, Hermann Hesse, Döblin,
Tucholsky sie alle haben Steiners Lebensweg gekreuzt und diese
Begegnungen festgehalten. Acht Interviews mit Tageszeitungen sind
wiedergegeben und eine sehr hübsche Sammlung von Karikaturen und
Texten über Steiner, die sehr genau das widerspiegeln, was den
Anthros bis heute in der Gesellschaft entgegenschlägt wer so
eindeutig in eine Richtung geht, gilt rasch als Fanatiker und wird
entsprechend durch den Kakao gezogen. Der Anhang ist sorgsam,
Literaturliste, Quellen, Nachweise, Zeittafel so kann der
Interessierte weiterlesen und im Lauf der Zeit prüfen: Wie sehe ich
Rudolf Steiner? Nun wird wohl eher das Werk zu uns sprechen und vor
allem das, was seine Adepten aus den Anlagen gemacht haben. Dem Blick
auf den Fotos (dankenswerterweise auch im Buch enthalten) mag man
ausweichen können, seinen Ansichten aber nicht, denn sie zeigen,
was dieser Mann schon vor einem knappen Jahrhundert erkannt hat: Es ist
notwendig, dass der Mensch sein Schicksal ergreift und dazu braucht er
schaffende Hände, einen stabilen Stand, aber auch die Gnade des
Himmels. Man mag nun von den Waldörflern denken, was
man will, aber dass sie Steiner mystifizieren, liegt daran, dass es uns
an Vorbildern eklatant fehlt, an geistiger Führung und am
Vertrauen, dass wir aus eigener Kraft Großes leisten können.
Das Buch jedenfalls wird wahre Jünger ziemlich verstören, denn
ein abgebrannter saufender Rudi passt nicht ins Bild des Heiligen, der
quasi mit einem Nimbus schon geboren wurde und zielstrebig seinen Weg
zum Höchsten ging. Jaja, da wird das Buch schon gewaltig Unmut
erzeugen, armer Wolfgang Vögele. Für alle anderen zeigt das
Buch: Steiner spaltet von Anfang an. Aber er lässt einem auch die
Freiheit, sich zu entscheiden, auf welcher Seite man stehen will. Und
ein Heiliger mit zerfleddertem Flügelpaar ist nicht weniger heilig,
im Gegenteil, er wird menschlicher und damit weniger Furcht einflößend.
Ein mutiges Buch, sehr schön gestaltet, ausgewogen. Ein Brandsatz
im Fleisch der Adepten, aber wer es nicht verkraftet, dass auch ein Guru
ziemlich viele Fehler machen muss, damit er sich daran weiterentwickelt,
sollte sich fragen, ob er sein Hirn auch an der Tür abgibt und
blind folgt, wem oder was auch immer. Wir sind Menschen, also fehlerhaft
und wenn einer aus unserer drögen Masse aufsteigt und so ein
Lebenswerk schafft, das viel Gutes in die Welt gebracht hat, ist es
immer ein Verdienst, auch wenn der Mann von mir aus in seiner Jugend
gesoffen hat, ein kompletter Chaot war und aus Überlebenstrieb
geheiratet hat. Nicht wenige Ehen dürften bis heute allein dem
Zweck dienen, dass jemand mal Ordnung in einen Saustall bringt, oder? Für
Freunde und Feinde der Anthros gleichermaßen lesenswert und für
manchen vielleicht der gelingende Einstig, denn ein menschlicher Führer
ist allemal weniger abstoßend als ein Sockelheiliger.
csc |
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