Martina Bick (Hrsg.): Die Winterreise
Cornelia Boese: Von Räubern, Feen und großen Geistern
Ursula Burkhard: Auch die Stille hat eine Sprache
Mathilde Cieplik: Alisa – im Labyrinth des Lebens
Lydia Flem: Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte
Hilde Kähler-Timm: Eulenmond
Wojciech Kopcinski: Kreuzfeuer
Tobias Kühne: Johanna
Henning Mankell: Tiefe
Thomas Quasthoff: Die Stimme. Autobiographie
Ludovic Roubaudi: Die Feuerwehrfrau
Neu Peter Schellenbaum: JA aus Liebe
Simone Schönfuss: Laut und deutlich
Helmut Siecke jr.: Der unvergessene Doktor
Konstantin Wecker: Tobe, zürne, misch dich ein!
nach oben Katharina Wille-Gut: Leben an der Goldküste
Neu Silke Wojtowitz: Die Chaosnadel
Würzburger Stadtschreiber: unentdeckt

Zum Weinen schön

Martina Bick (Hrsg.): Die Winterreise. Illustriert von Stefanie Roth. 340 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 24 zweifarbige Illustrationen. 39,– Euro. Gerstenberg Verlag. ISBN 3-8067-2554-3.

nach oben Schuberts Winterreise! Dieser Liederzyklus mit den Texten vom Wilhelm Müller spaltet Hörer in Hasser und solche, die auch nach dem xten Hören in Tränen ausbrechen. Der Gerstenberg-Verlag hat zu einem ungewöhnlichen Projekt aufgerufen und herausgekommen ist ein entsprechend ungewöhnliches Buch: 24 Liedertexte – 24 Geschichten. Den melancholischen Texten beigesellt sind melancholische Bilder von Stefanie Roth.
„Ich werde euch einen Zyklus schauerlicher Lieder vorsingen“, gab Schubert 1828 Freunden bekannt. Es sind Lieder, die keinen kalt lassen, sie ziehen einen in ihren Bann. Allen eigen ist der Charakter des Vergänglichen, des Vergeblichen, Trauer durchzieht auch die „fröhlicheren“ Texte, von der Musik einmal ganz abgesehen. Jede Geschichte der 24 unterschiedlichen Autoren – eine gemischte Gruppe aus Biographen, Musikjournalisten, Krimischreibern, Essayisten und anderen – basiert auf einem Text aus dem Liederzyklus. Entweder nimmt sie ihn als Ausgang der eigenen Geschichte oder der Liedertext ist die Kurzfassung, so unterschiedlich die „Rückgriffe“ auf den Liedtext sind, so verschieden sind die Texte.
Mord und Totschlag, subtil, feinsinnig, auch brachial – alles vorhanden. Zarte Liebesbande, Glück, wie hingehaucht auf eisige Scheiben, schnell gefrierend und dadurch das kleine Gucklock zuwachsend, Hoffnungen, die zerbrechen, Wünsche, die sich nie erfüllen werden – die ganze Skala wird in den Geschichten auf und ab gespielt.
Unterschiedliche Autoren haben unterschiedliche Schreibstile, mal suggestiv, dass man sich nicht entziehen kann, mal mit innerer Ironie, mal beinahe selbst mit den untergehenden Protagonisten weinend, doch immer fühlt man: Hier ist der Müllertext ganz durchdrungen, hier klingt die Tonfolge Schuberts an, da kennt der Autor „sein“ Stück durch und durch und wandelt es um, übersetzt es in Bilder, die der Macht der Müllerschen Texte nicht nachstehen.
Optisch lässt das Buch auch kaum Wünsche offen, der Winterreise entsprechend sind die kleinen Auslassungssymbole nicht die üblichen klaren Sterne, sondern Eiskristalle, jede Seite zweifarbig mit dem Dachzeilenstreifen und der Seitenzahl abgesetzt, vor jeder neuen Geschichte ist der Liedtext abgedruckt, begleitet von einem Bild, auf dem sehr oft einsame Wanderer von dannen gehen, während im Hintergrund das pralle Leben Raum einnimmt. Man darf genau hinschauen bei den Bildern, dann entdeckt man auch die kleinen Dinge wie die eingerollte Katze im Fenster bei „Wasserflut“.
„Das Weinen ist des Müllers Lust“, das Nachwort von Barbara Sichtermann, leistet seinen „kleinen Beitrag zur Kulturgeschichte der Schmerzäußerung“. Als Autoren fungierten: Helga Anderle, Mischa Bach, Martina Bick, Oliver Buslau, Uwe Friesel, Peter Gerdes, Birgit H. Hölscher, Beatrix M. Kramlovsky, Knarr&Wehner, Hartmut Mechtel, Jürgen Otten, Mechthild von Schoenebeck, Klaus Seehafer, Michael Stegemann, Sabine Thomas, Regula Venske und Gabriele Wolff.
Es ist natürlich fast unerlässlich, beim Lesen Schubert zu hören. Sie sollten sich dann aber etwas Warmes zum Einkuscheln bereitlegen oder gleich im Sommer lesen. „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus …“ – aber das ist zum Weinen schön.
csc

Mit scharfem Blick und heiterem Gemüt

Cornelia Boese: Von Räubern, Feen und großen Geistern. Würzburger Künstlergeschichten. Mit Zeichnungen von Bärbel Taylor. 91 Seiten, gebunden. Verlag Peter Hellmund. ISBN 3-9808253-3-7.

nach oben „Wenn ich ein zukünftiger Dichter und gerade mit der Wahl meines Geburtsortes beschäftigt wöre, dann würde ich Würzburg sehr mit in Erwägung ziehen. Diese schöne Stadt macht durchaus den Eindruck, als habe sie einem dort geborenen Dichter etwas mitzugeben.“ Diese Zeilen von Hermann Hesse aus dem Jahr 1928 stellt Cornelia Boese ihrem herrlichen Gedichtband in sonnenblumengelbem Umschlag voran. Klar – sie ist in Würzburg geboren und dass Würzburg nicht nur ein guter Boden für Dichter, sondern auch zahlreiche andere Künstler war, belegt sie in diesem Band sehr eindrucksvoll, umrahmt von liebevollen Zeichnungen der Malerin Bärbel Taylor.
Man muss kein Würzburger sein, um mit den Namen Walther von der Vogelweide, Tilman Riemenschneider, Balthasar Neumann, Tiepolo, Mozart, Goethe, Richard Wagner, Hermann Zilcher, Tucholsky, Gertraud Rostocky, Emy Roeder und Leonhard Frank etwas anfangen zu können. Auf die Lebensspuren dieser Berühmtheiten, die alle in Würzburg ihre Spuren hinterlassen haben, hat sich Cornelia Boese begeben und sie zeichnet mit ihr eigenem Sprachwitz in frohen Versen deren Leben mit sicherem Gespür für die wesentlichen Ereignisse nach.
Cornelia Boese ist mit Sicherheit Deutschlands bekannteste Souffleuse, denn das unsichtbare Aushängeschild des Mainfranken-Theaters hat es längst zum mehrspaltigen Foto in der Süddeutschen gebracht – dank ihrer frischen, unkonventionellen Art, ihrer Liebe zum Beruf und vor allem ihrem Faible für Verse. Nachdem die Menschheit aufgeklärt wurde, was eine Souffleuse so macht („Ich bin der unsichtbare Herrscher einer magischen Welt“, „Die gute Fee im Kasten“), ihrer spritzigen Reimreise zu Mozart („Gaulimauli“) und einer Erzählung von ihrer Reise in ihre bevorzugte Urlaubsregion Skandinavien („Polska für den Elch“), die natürlich auf Boeses unerschütterlicher Liebe zu diesen schaufelartig beweihten Viecherln gründet, hat die junge Dame mit Ringelstrümpfen Würzburger Berühmtheiten beforscht. Forschen kann sie hervorragend, denn sie ist studierte Musikerin und hat eine 200 Jahre verschollene Salierioper ins Deutsche übersetzt, zudem ist sie selbst Würzburgerin und das verpflichtet förmlich zur Spurensuche. Wer weiß es schon genau, welcher Text im feuerroten Kanu entstanden ist, mit dem Boese auf dem Main gesichtet werden kann, falls sie einmal ausnahmsweise nicht im Theaterkasten sitzt und sich das Publikum mit dem Anblick ihrer Beine begnügen muss!
„Der prominenteste Besteller von Frankenweinen aus dem Keller der Würzburgischen Residenz verdankte seine Existenz als Säugling schon der heil’nden Kraft von eingerieb’nem Rebensaft. Es handelt sich um Goethe, dem das Lufthol’n nach einer Problem-Geburt misslang: Den schwachen Buben belebte erst eine Herzgruben-Massage, durchgeführt mit Wein, und endlich fing er an zu schrein’n.“ – Ein Beispiel von vielen, 91 Seiten Einblicke durchs Schlüsselloch ins Künstlerleben, mit Freude am Formulieren werden hier ungeahnte Anekdoten hervorgezaubert. Wer Künstler mal sehr menschlich sehen möchte und zudem Freude am Reim hat, ist selbst schuld, wenn er sich dieses Bändchen nicht gönnt. Und wer zu faul zum Lesen ist, kann Cornelia Boeses poetisch-musikalische Reise in die Unterwelt des Theaters, begleitet von Barbara Hennerfeind an der Gitarre, sogar als Hörbuch-CD genießen (amphion records). Ach so, der Goethe geht so aus: Das Kuchenpost-Experiment bleibt leider ohne Happy-End; trotzdem besitzt die Stadt am Main, stimmen die Dichter überein, und sing’n ein Lob auf Fluss und Fässer, aphrodisierende Gewässer
csc

Kostbarkeiten für die stillen Momente

Ursula Burkhard: Auch die Stille hat eine Sprache. 155 Seiten, kartoniert. Pforte Verlag. ISBN 3-85636-145-6.

nach oben Wer Ursula Burkhards Texte kennt, ahnt schon beim Titel, was ihn erwartet – kleine Kostbarkeiten, kürzere und längere Texte, Lyrik, Gedanken, Perlen, entstanden in der Muschelschale des Inneren. Viele Texte, die Anina Bielser sorgsam für dieses Bändchen zusammengestellt hat, sind in den letzten Jahren veröffentlicht worden, aber niemals in dieser konzentrierten Zusammenstellung und so mancher Text nur privat. Ursula Burkhard, 1930 in Basel geboren, hat eine ganz enge Beziehung zu Märchen und zu den Elementarwesen. In den letzten Jahren sind die Elementarwesen stärker ins Bewusstsein der Menschen gerückt, was nichts damit zu tun hat, dass in Island keine Entscheidung in Baufragen getroffen wird, ohne die Meinung der Erdwesen einzuholen, sondern damit, dass die Menschen merken – wir sind nicht allein. Es west und webt um uns herum und man muss die inneren Augen schärfen, um das Außen zu sehen. Wer wüsste das besser als Ursula Burkhard, die sich stets auf ihre inneren Augen verlässt!
Ursula Burkhard konfrontiert den Leser gerne auch einmal mit Erkenntnissen, die auf den ersten Blick hart und scharf hingestellt werden – an dieser Klinge kann man sich reiben und den Schnabel wetzen, denn nach dem ersten „das ist starker Tobak“ dämmert einem die Erkenntnis, dass nach einer gewissen Phase der Betrachtung leider die Wahrheit hinter den Aussagen steckt, sonst nichts und die kommt selten schön daher. Es sind Miniaturen, die nachdenklich machen, die zeigen, dass die Welt nicht eindimensional ist, nicht einfach, nicht locker-leicht, sondern dass hinter allem ein ganz anderer Sinn steckt, eine verborgene Weisheit, die erst erkannt werden will wie ein stilles, unauffälliges Pflänzchen im Wald, verborgen von den Ästen der großen Bäume.
Ein Text, den man vor allem jenen ans Herz legen möchte, der mit seiner momentanen Situation gänzlich unzufrieden ist, ist die zauberhaft erzählte Geschichte von Zitrin, hier tritt Ursula Burkhards Erzählkunst vor den Leser hin, der durch den Text gleitet und weiß – hier wird kein Märchen erzählt, hier wird ein Bild, ein Gleichnis vor einen hingestellt, das helfen kann, notwendige Brücken zu betreten, um in der eigenen Entwicklung weiterzukommen. Oder, wie es die Autorin in ihrem Text „Schwellenstunde“ schildert: „So weist die Schwellenstunde durch Dunkelheiten den Weg ins Sonnenland“ – wer den inneren Pfaden folgt, geht nicht fehl.
csc

Träumalternative zu Rosamunde Pilcher entdeckt!

Mathilde Cieplik: Alisa – im Labyrinth des Lebens. Roman. 200 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 19,80 Euro. Medu-Verlag. ISBN 3-937791-05-1.

nach oben Alisa – im Labyrinth des Lebens Als die kleine Aliesa geboren wird, ahnt niemand, dass sie kurz darauf ihre Eltern verlieren und als Adoptivkind auf einem schleswig-holsteinischen Gestüt aufwachsen wird. Das Mädchen verliert auch die Stiefmutter und wächst in einem Schweizer Internat auf. Sie heiratet ihre große Liebe Adam Wild, doch ihre beste Freundin Betty missgönnt ihr das endlich gefundene Glück. Ein grausames Attentat bringt den berühmten Maler in den Rollstuhl, doch Betty reicht das nicht. Erst eine alte neue Liebe hilft Aliesa wieder, Fuß im Leben zu fassen, doch dann überstürzen sich die Ereignisse – sie findet ihre eigene Berufung und aus der Gutsherrin wird eine Jetsetikone, die sich alles leisten kann. Immer tiefer wird der Riss in der Ehe mit dem Mann, der einst ihr Stiefvater war, bis Aliesa und Richard auf unerwartete Weise wieder zueinander finden und Ereignisse das Paar überrollen, mit denen niemand gerechnet hätte.
Die Schweiz, ein Gestüt in Schleswig-Holstein, Afrika und Irland sind die Schauplätze der Geschichte um Aliesa, das adoptierte Mädchen, in deren Leben der Tod eine besondere Rolle spielt. Neid, Hass, Gewalt, ein Attentat und sogar Mord und Totschlag gefährden Aliesas Leben immer wieder, bis ihr der Durchbruch in eine andere Welt gelungen ist. Dass auch dort das Glück nicht zu finden ist, sondern an ganz unverhoffter Stelle auf sie wartet, zeigt, dass das Leben ein wahres Labyrinth ist, nicht umsonst kommt es Aliesa so verzwickt wie ein keltisches Flechtbandmotiv vor, das aber doch immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt.
Lesevergnügen für Badewanne, Hängematte und regnerische Wochenenden!
csc

(Sich) Leer räumen – vom Umgang mit dem Erbe

Lydia Flem: Wie ich das Haus meiner Eltern leer räumte. 128 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen. 18,80 Euro. Schirmer-Graf Verlag. ISBN 3-86555-011-8.

nach oben Irgendwann kommt der Tag, an dem man Vollwaise ist. Im besten Falle spät im Leben, doch eines Tages ist es soweit – es ist ein Nachlass zu verwalten. Wie das klingt, juristisch-distanziert, erben, und wenn es ein Haus ist, das veräußert werden soll, wohin mit dem Inhalt? Entsorgen? Kann man entsorgen, was einem seit Kindertagen vertraut ist? Wie geht man damit um?
Lydia Flem hat aufgeschrieben, was sie bewegt hat in diesen Wochen des Abschiednehmens. Es ist ein schleichender Abschied, auf Raten, da reißen viele alte Wunden auf. Man findet Bruchstücke aus der Kindheit, nun gehört einem mit einem Schlag, was man nie hat anfassen dürfen. Man könnte es an die Wand werfen, jedes einzelne wertvolle Porzellanteil des Services, an dem man nicht mal eine Ecke hat abschlagen dürfen. Es würde niemand mehr schimpfen. Wie geht man damit um, wenn man den Kleiderschrank aufmacht und feststellt, dass auch Eltern Unterwäsche getragen, Briefe aufbewahrt, Geheimnisse gehütet haben, wie verkraftet man es, mit der eigenen Familiengeschichte konfrontiert zu werden, die zu Lebzeiten der Eltern sakrosankt war?
Mit einem Schlag entblößen sich Wurzeln, liegen am Tageslicht vor einem und man muss überlegen, ob man sie betrachten mag oder besser schnell wieder zuschüttet. Wohin mit Möbeln, mit Büchern, mit Töpfen, Wäscheklammern, Kleiderbügeln, Wintermützen, allesamt stumme Zeugen gelebten Alltags, Bücher mit Zettelchen, Briefe, weniger stumm, sehr beredte Wegbegleiter von Menschen, die man gekannt hat und die einem doch fremd geblieben sind? Nun, da man ungeniert in ihren Sachen herumstochern darf, ja sogar muss, denn das Haus soll ja leer werden, bekommen die Toten und ihre Gegenstände ein neues Leben, muss alles neu definiert, bestimmt, festgelegt werden.
Lydia Flem hat ihre Gedanken und Gefühle aufgeschrieben. Die Trauer wird deutlich, die Wut, die Anklagen der Jugend- und Erwachsenenzeit, alles bricht jetzt wieder auf, was mühsam versteckt worden ist, alles will nun noch einmal in die Hand genommen und dann mit Bewusstsein „ad acta“ gelegt werden. Einseitiges wird plötzlich plastisch, denn die Eltern sind nicht mehr nur Eltern, sie sind selbst Kind, Liebespartner, Zeitzeugen, Opfer und Täter. Diese Menschen hatten Träume, Eigenheiten, Ticks, Marotten, schlechte Angewohnheiten, Vorlieben und die kennen Kinder nur bedingt. Auch erwachsene Kinder lernen ihre Eltern nicht wirklich kennen, so hart das auch klingen mag. Erst der Tod ermöglicht es, posthum die Menschen zu erforschen, die einem mit am nächsten standen. Dass diese Auseinandersetzung problematisch ist, wird in diesem poetischen, mutigen und dringend notwendigen Buch sehr deutlich, aber auch die Erkenntnis, dass durch das ausräumen müssen eines ganzen Hauses Erfahrungen möglich werden, die man bei einem Entrümpelungsdienst (schon das Wort ist eine Ohrfeige) nicht gemacht hätte – man begibt sich auf Spurensuche. Was man findet, ist nicht immer schön, nicht schmeichelhaft, nicht großartig, aber zwischen allem Schmerz blinken wahre Schätze, liegt auch die Chance des Vergebens, des Erkennens, vielleicht gar der Liebe, weil man erst begreift, wer diese Menschen, die einem ein Haus voll Zeug hinterlassen haben, gewesen sind. So liegt in dieser schweren Aufgabe, mutig ergriffen, die Möglichkeit der Heilung alter Wunden und die Chance, die Verstorbenen auf eine andere Weise kennen zu lernen. Und noch eine Erkenntnis gibt es – die Dinge sterben nicht. Wechseln sie den Besitzer, ergreift der vielleicht eine andere Facette, prägt dem Gegenstand seine eigene Aura ein, aber die Gegenstände sind wieder lebendig. Das Buch lehrt Mut, Achtsamkeit und fordert dazu auf, sich zu verabschieden, indem man nicht leeren lässt, sondern selbst durch das Ausräumen bis auf den eigenen Grund kommt. Dass da eine Masse Schlamm auf die Entsorgung wartet, liegt in der Natur der Dinge. Aber dies durchzuhalten ist wie permanentes Hacken, Gießen und Pflegen – es lohnt sich.
csc

Josie allein im Indianerland

Hilde Kähler-Timm: Eulenmond. Ab 10 Jahren. 285 Seiten, gebunden. Thienemann Verlag. ISBN 3-522-17615-4.

nach oben Literarisch gesehen, ist Hilde Kähler-Timms Buch „Eulenmond“ eine Novelle. Als Rahmengeschichte haben wir ein Mädchen unserer Tage, das mit ihrer Mutter und deren Freund unterwegs ist und eine Rast macht. Das Mädchen findet eine Brosche mit einer Gravur und nun entfaltet sich die Geschichte von Josie, die dieses Schmuckstück einst von ihrer Großmutter im Jahr 1849 bekommen hat. Es ist eine spannende Erzählung über das Leben in einem Siedlertreck, der von Independence (Kansas City) unterwegs ist nach Fort Walla Walla, quer durch die Vereinigten Staaten und vor allem mitten durch Indianerland. Josies Mutter ist gestorben und nun reist sie mit ihrem Vater und den beiden Brüdern. Eines Tages kehren die drei nicht mehr von der Jagd zurück. Während der Treck weiterzieht, bleibt Josie beim Planwagen in dem kleinen Tal, denn darauf befindet sich der gesamte Besitz der Familie. Rasch wird klar, dass etwas passiert sein muss und Josie ist klug genug zu begreifen, dass sie sich auf den Winter in diesem Tal gefasst machen muss. Ohne Dach über dem Kopf ein tödliches Unternehmen, das ist dem Mädchen bewusst. Zwar hat sie vieles auf der Reise gelernt, aber es ist ein Unterschied, ob man gemeinsam mit Erwachsenen zusammenarbeitet oder die Verantwortung alleine trägt. Eine Hütte zu errichten übersteigt fast Josies Fähigkeiten, doch es gelingt ihr.
Sie bleibt nicht unbeobachtet, eine Indianerfamilie lässt sich in der Nähe nieder, Josie bemerkt sie nicht. Die Indianer halten Josie für einen jungen Weißen und rechnen nicht damit, dass er den extremen Winter lebend übersteht. Als ein Puma Josie angreift, rettet ihr ein Indianer das Leben, und als mit der Schneeschmelze die Hütte zerstört und Josie klatschnass wird, passiert das, wovor sie den ganzen Winter am meisten Angst hatte: Josie wird schwer krank. Eine Indianersqaw rettet sie und so bemerken die Indianer, dass Josie ein Mädchen ist. Der Respekt vor ihr wächst erheblich, denn Josie hat ihn überlebt, diesen entsetzlich kalten, vor allem aber unglaublich einsamen und gefährlichen Winter im Tal. Die Indianer bringen Josie ins Fort, zu dem der Treck unterwegs war; sie ist angekommen, alleine, ohne ihre Familie und sie hat gelernt, zu überleben und zu vertrauen.
Ausgehend von einer authentischen Geschichte über ein Mädchen namens Janette Riker, die einen Winter in einem Tal verbrachte und von Cayusen-Indianern gerettet wurde, hat Hilde Kähler-Timm mit eindrucksvollen Bildern die Landschaft und die unglaubliche Härte gezeichnet, die auf den Menschen einstürzt, wenn er in dieser Gegend alleine einen Winter überstehen soll. Josie trotzt den Gefahren, sie gibt niemals die Hoffnung auf, und so bleibt die Geschichte bis zum Ende spannend. Nebenher erfährt der Leser sehr viel über den Oregon-Trail, dem im 19. Jahrhundert Abertausende von Siedlerfamilien folgten, um im Westen das Gelobte Land am Stillen Ozean zu erreichen, aber auch über das Leben der Indianerfamilien, durch deren Land dieser Trail führte.
csc

Himmelhochjauchzend zu Tode betrübt

Wojciech Kopcinski: Kreuzfeuer. Zwischen Absturz und Lichtblicken: Ein Leben für die Kunst. Tagebuch. Deutsche Erstausgabe (Das Original erschien 2000 in Polen unter dem Titel: „List – Dziennik“), ins Deutsche übertragen von Bettina Arnold. 192 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 14,80 Euro. Medu-Verlag. ISBN 3-937791-09-4.

nach oben Kreuzfeuer Exil bedeutet, in einer vollkommen anderen Welt zu leben. Man versteht weder die Sprache noch die Mentalität der Menschen um sich herum, kennt die Sitten und Gebräuche ebenso wenig wie die Gerichte und muss mit brutal gekappten Wurzeln überleben. Das ist die reale Seite. Dazu kommt der Verlust der inneren Werte. Wer das Land verlässt, weil er darin nicht mehr leben kann, spürt, dass er auch seine Seele dort zurücklässt. Und das ist wesentlich schmerzhafter als ein reiner Ortswechsel. So schmerzhaft, dass oft nur noch die Betäubung hilft. Nicht selten heißt das – Alkoholexzesse.
Wojciech Kopcinskis Tagebuch, eigentlich als Brief begonnen, ist ein Dokument voller Verzweiflung, die Beschreibung des Kampfes gegen die Sucht und die Ignoranz der Mitmenschen, aber auch eine wunderbare tiefsinnig und tief empfundene Betrachtung über die Mentalitätsunterschiede zwischen Deutschen und Polen, ein großes Essay über Kunst, Literatur, Filme, das Theater und die Frage, wie man Worte in Bilder, sei es für die Bühne oder den Film, umsetzt.
Kopcinski, Jahrgang 1950, hat große Erfolge in Polen erlebt, als er am Theater in Tschenstochau zahlreiche Projekte auf die Beine stellte. Doch er hat auch die Hölle gesehen, die Erkenntnis, dass er in Polen nicht mehr inszenieren darf, ihm lange Jahre der Weg auf die polnischen Bühnen versagt geblieben ist. In seinem Buch schreibt er seine Gedanken und Gefühle nieder. Man ist mitten in den Filmen, den Theaterstücken, in der polnischen Landschaft, die der Künstler so liebt, aber auch direkt am Geschehen, wenn der Alkohol für Abstürze sorgt. Künstlerleben im Exil: Kopcinskis Bericht steht sicher stellvertretend für viele, aber nur wenige haben den Mut, ihre tiefste Trauer und ihren größten Schmerz auch publik zu machen.
csc

Eigene Wege gehen – trotz allem

Tobias Kühne: Johanna. Das Leben eines besonderen Menschen. 104 Seiten, kartoniert. Urachhaus Verlag. ISBN 3-8251-7467-0.

nach oben 1962 wird Johanna als gesundes Mädchen geboren. 1964 erfolgt die Pockenimpfung. Das kleine Mädchen erkrankt infolge der Impfung an Encephalitis und aus dem Leben des vormals gesunden Kindes wird das Leben eines Menschen mit einer Behinderung. Johanna bleibt geistig auf dem Stand eines zwei- bis dreijährigen Kindes stehen und lebt 38 Jahre lang innig geliebt und umsorgt im Kreis ihrer Familie.
Wer selbst in einer Familie mit einem behinderten Geschwisterteil aufgewachsen ist wie ich, nimmt dieses Buch als ein großes Geschenk an. Es ist ein Dokument tiefster Liebe zu einem Menschen. Nicht zu einem behinderten Menschen, sondern zu einem besonderen Menschen. Johanna sieht die Welt mit ihren Augen, es ist eine Welt der Töne, der Klänge, der minimalen Fortschritte. Das Buch legt Zeugnis ab von vielen Tagen mit Johanna innerhalb der Familie, von ihrem Alltag, von ihren Sorgen und Nöten und von der Tatsache, dass Johanna durch ihr So-Sein ihre Familie dazu bringt, die Welt anders zu sehen. Es wird aber auch deutlich, wie anstrengend so ein Leben sein kann – dauernd muss aufgepasst werden, dass Johanna nichts passiert und was so eine permanente Anspannung auch bedeutet, weiß nur, wer es aus eigener Anschauung kennt oder jemand, der dieses Buch aufmerksam liest.
Johanna kennt das Böse nicht, sie lebt ganz in der Harmonie und fordert das auch von ihrer Familie – Harmonie, Ordnung und Liebe, der Kosmos, in dem sich Johanna bewegt und der auch die Familie reich beschenkt, wenn sie sich auf die Koordinaten des neuen Systems einlässt.
Tagebuchnotizen und Briefe an die Großeltern leiten das Buch ein. Wir Leser nehmen teil an Johannas schwerer Erkrankung und erleben aus Sicht der Mutter mit, wie sie um das Leben der Tochter bangt und wie sich Johanna im Folgenden entwickelt. Die wachsende Familie macht es der Mutter unmöglich, weiter ausführlich Tagebuch zu schreiben, doch Katharina, Johannas Schwester, nimmt sich für ihre Jahresarbeit an der Waldorfschule die Betreuung ihrer Schwester vor. So begleitete sie ein Jahr lang besonders intensiv und mit eigenen Ideen und Vorstellungen ihre Schwester. Das Buch legt davon Zeugnis ab. In diesem Jahr hat Katharina sehr viele Facetten aus dem Leben mit Johanna aufgezeichnet.
Die Aufzeichnungen, ursprünglich als Privatdruck gedacht, sind ein berührendes Dokument einer Familie, die aus vollem Herzen die besondere Aufgabe dieses Lebens angenommen hat. Nach Johannas Tod kann Vater Tobias Kühne in der Rückschau sagen: „Wenn wir heute auf Johannas Leben zurückblicken, empfinden wir dankbar, dass sie uns durch die Wärme ihres sonnigen Wesens viel mehr gegeben hat, als sie je von uns erhalten konnte.“ Diesen Satz können mit Sicherheit alle Eltern und Geschwister besonderer Menschen bejahen. Es ist ein unglaublich hartes Los, den Alltag mit behinderten Menschen jeden einzelnen Tag und auch die Nächte durchzutragen. Aber was auf der anderen Seite an Liebe, an Zuneigung, an die Welt hochwerfender Freude, an Beseeltheit über die Familie wie ausgegossen wird, ist eine Lebenserfahrung, die man wie einen Ritterschlag annehmen darf.
Besonders schön sind die eingefügten Bilder von Johanna, die ein paar Facetten dieses ungewöhnlichen Menschen zeigen und den Leser durch die Lebensfreude Johannas tief berühren.
csc

… Grundlos senkt die Tiefe sich

Henning Mankell: Tiefe. Aus dem Schwedischen von Verena Reichel. Roman. 367 Seiten. 21,50 Euro. Paul Zsolnay Verlag. ISBN 3-552-05343-3.

nach oben Lars Tobiasson-Svartmann. Marineoffizier. Seevermessungsingenieur. Verheiratet mit Kristina Tacker, späterer Insassin der Nervenklinik außerhalb von Säter. Erzeuger eines unehelichen Kindes mit Sara Fredrika. Tötet eine Katze, einen deutschen Deserteur, versucht, seinen Schwiegervater mit seinem Hammer zu erschlagen und ist auf der Suche nach einer Tiefe, die er nicht mehr ausmessen kann. Am Ende ist er erfolgreich.
Der erste Weltkrieg hat begonnen. Schweden rüstet sich für den Ernstfall, man weiß ja nie, kommen die Russen? Die Deutschen? Es gibt nur eine Chance – man muss neue Schifffahrtswege finden, durch noch nicht vermessene Tiefen, denn die modernen Schiffe haben einen anderen Tiefgang. Also muss das Meer neu kartiert, vermessen, ausgelotet werden. Ideal dafür geeignet ist Lars Tobiasson-Svartmann, der von der Suche nach der ultimativen Tiefe besessen ist, die Tiefe, in die sein Messinglot nicht mehr reicht. Während er in den Schären herumschippert und das Lot Tausende Male ins Wasser klatschen lässt, es in der Tiefe verschwinden sieht, sinkt auch Lars Tobiasson-Svartmann immer tiefer in ein Netz, das er selbst gesponnen hat, ohne es zu wissen. Tote kreuzen seinen Weg, ungewollt, schuldlos ist er an ihrem Tod. Er findet ein Tagebuch, das die Wahrheit über ihn enthält, ihn konfrontiert mit der Erkenntnis, wie ihn andere Menschen sehen. Und er kehrt immer wieder zu seiner Frau Kristina Tacker zurück, die niemals anders genannt wird als mit ihrem vollen Namen. Kein Kosename, kein Wort zuviel, die Begegnungen der beiden finden im Gefühlsvakuum statt. Erstaunlich, dass in dieser sterilen Beziehung ein Kind gezeugt wird, Laura.
Während der Messungen landet Lars auf den äußersten Scheren auf einem Flecken Land, dort findet er eine Frau, die an diesem extremen Punkt der Welt seit dem Tod ihres Mannes einsam lebt. Lars sieht Sara und von da an nimmt der Untergang seinen Lauf. Lars lügt sich in beiden Welten durch, der Welt, die er mit Kristina Tacker, ihrer sterilen, dünkelhaften, gefühlskalten und musealen Familie teilt, und der animalischen Welt mit Sara, die stinkt, die einen Deserteur aus Deutschland aufgenommen hat und die als Hure gilt für alle Matrosen, die in dieser Wildnis vorbeikommen.
Lars Tobiasson-Svartmann sucht in der Außenwelt nach der unauslotbaren Tiefe und er muss erkennen, dass sie nicht draußen ist, sondern in ihm. Er verstrickt sich zwischen den Welten, er entwickelt tiefe Hassgefühle, die sich gegen Menschen und Tiere entladen, er zieht eine blutige Spur.
Das Militär entlässt ihn. Seiner Frau erzählt er, er habe einen neuen Geheimauftrag und er verbringt den Sommer auf den Schären mit Sara, die zeitgleich wie seine Frau ein Kind von ihm erwartet. Zwei Lauras werden geboren. Kristinas Laura stirbt. Der Stein kommt ins Rollen, als sie von Lars’ Vorgesetzten erfahren muss, dass ihr Mann längst entlassen wurde. Kristinas Vater, von Lars mit einem Hammer niedergeschlagen, hilft ihr bei der Suche nach ihrem Ehemann und so segelt sie eines Tages mutterseelenallein in die äußeren Schären. Dort treffen Kristina, Sara, Lars, die tote und die lebendige Laura aufeinander. Jeder der drei Erwachsenen findet seine eigene Lösung aus dieser Situation, auf seine Weise.
Mankells Sprache ist hart, kurz, eisig, kompromisslos. Man friert beim Lesen und das ist gut so. Das Grauen schleicht sich ein wie Nebel, legt sich schwer um die Knochen und zieht einen wie mit einem Senkblei beschwert in die Tiefe, die, die Lars Tobiasson-Svartmann so ersehnt. Unglaublich exakt, genau, mit enormer Detailkenntnis ist der Text ausgestattet, keine Fragen, keine Zweifel, hervorragend recherchiert, verpackt in eine Sprache, die kühl ist, abweisend fast, die Leere zwischen den Eheleuten beinahe körperlich spürbar macht. Ein Buch, das den Leser mit der Frage zurücklässt, wo seine eigenen Untiefen sind.
csc

Innere und äußere Größe

Thomas Quasthoff: Die Stimme. Autobiographie. Aufgezeichnet von Michael Quasthoff. 336 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 24,– Euro. Verlag Ullstein. ISBN 3-550-07590-1.

nach oben Thomas Quasthoff Thomas Quasthoffs Autobiographie – im ersten Moment purzeln einem jede Menge Gedanken durch den Kopf. Erinnerungen an eine Echo-Preisverleihung, Grammy, Lieder zum Weinen schön auf CD gepresst und eine berührende Stimme, die man verstehen kann, ohne im Textheft nachzuschlagen, natürlich die Berichte über „Contergan“ und Pressescheu. Das alles sind Facetten eines Mannes, doch was sagt er selbst?
Dieses Buch ist nichts für Leute, die Mitleidheischendes erwarten, die Tipps wünschen, wie sie selbst ihre Grölstimme in einen Juwel verwandeln, es bietet keine voyeuristische Schlüssellochperspektive, denn es reißt die Tür auf und konfrontiert den Leser mit einer Persönlichkeit, mit der man auch gern mal ein Bier trinken würde. Thomas Quasthoff ist ein Mensch, mit dem man gern befreundet wäre, denn er hat alles, was man sich wünscht – Witz, Esprit, eine grandiose Bildung, Sprachvermögen, einen tiefgründenden Humor und einen Bruder, mit dem er ein perfektes Team bildet. Den Ball, den der eine zuwirft, nimmt der andere auf. Die Quasthoff-Brothers müssen gemeinsam der Hammer sein.
Was macht das Quasthoff-Phänomen aus? Das ist die Frage. Absolut treffend schreibt Thomas Quasthoff schon auf der Klappe: „Ich kann auf der Bühne keinen schicken Frack tragen, ich mache nichts her, mein Körper ist klein und unscheinbar, und für die beeindruckenden Gesten fehlen mir die Extremitäten. (…) Jemand, der aussieht wie der Glöckner von Notre-Dame, mag eine Saison lang als Kuriosität durchgehen, auf die Dauer akzeptiert das Publikum einen Künstler nur, wenn die Qualität stimmt, wenn er etwas zu sagen hat.“ Dass Thomas Quasthoff ein Contergankind ist wie Tausende meiner Altersgruppe, wusste ich lange gar nicht, weil ich nur „Die Stimme“ kannte und fasziniert davon war. Eine Vorstellung vom Sänger hatte ich nicht, ein Foto, das mir unter die Finger kam, zeigte einen markanten Kopf. Ich war gespannt darauf zu lesen, wie es ihm gelungen war, seine Stimme so auszubilden.
Contergangeschädigt, behindert zu sein, bedeutete vor über 40 Jahren (vermutlich bis heute), dass das kleine Kind von der Familie getrennt in Kliniken aufbewahrt wird, man testet Operationen, nennt es Hilfe und setzt ansonsten die Kinder der Öffentlichkeit aus. Die ganze Welt wird zum Jahrmarkt, Mütter müssen sich beschimpfen lassen, nach der Psyche der Betroffenen fragt keiner. Was für ein Glück, dass Mama Quasthoff ein gutes Rückgrat hat und auch der Vater fähig ist, auch mal unkonventionelle Methoden anzuwenden. Was für ein Glück auch, dass Thomas einen großen Bruder hat. Anfangs ist das alles wenig hilfreich, denn auch Thomas Quasthoff erlebt die übliche Maschinerie. Gipsbett – was für eine Folter das ist, ermisst keiner, der es nicht erlebt hat. Mein eigener Bruder lag ein Jahr darin und was Thomas Quasthoff über diese Zeit schreibt, habe ich selbst auch so erlebt. Der Tonfall bleibt sachlich, es bleibt dem Leser überlassen, zu weinen. Die Phase hat Thomas Quasthoff hinter sich. Er erlaubt den Blick auf den kleinen Jungen, der Gipsbett und Schienen an den Beinen ausgesetzt ist und dessen kluge Mama ihm das Laufen beibringt mit Hilfe von Schokolade (bei meinem Bruder waren es Smarties!). Wir dürfen ins Leben der Familie schauen, erleben die Zeit im Internat mit, weil „Behinderte“ nicht in öffentliche Schulen gehen und freuen uns, dass es der Zähigkeit der Familie (und dem Durchhaltevermögen des „Betroffenen“) gelingt, Thomas einen regulären Schulbesuch zu ermöglichen. Die Welt der Musik eröffnet sich früh für das begabte Kind, Mama und Papa sorgen für unterschiedliche Musik und irgendwann wird klar – da steckt eine gute Stimme drin. Thomas beißt sich nicht nur in der Schule durch (notfalls muss halt mal Bruder Micha einem Blödmann den Oberkiefer neu gestalten), sondern lernt schnell, dass Singen sehr gewinnbringend ist, wenn man gerne isst. Es kommt der Moment, an dem klar wird, dass das Singen mehr werden kann als nur Trallala. Thomas Quasthoff landet bei Charlotte Lehmann, einer Sängerin, die seine Stimme ausbilden möchte. Wir sehen mit verständnisvollem Grinsen einen Nachmittag im Hause Quasthoff: Thomas macht Stimmbildungsübungen (sowas nervt ohne Ende! Seltsamerweise nur bedingt den, der diese Geräusche von sich gibt), sein Bruder kann sich nur retten, indem er Klarinette lernt und schmerzlich Fiependes erzeugt, Mama Quasthoff, die das ertragen muss und über allem der Vater, dem der Krieg einen Strich durch eine eigene Sängerkarriere gemacht hat. Es ist zum Wegschmeißen. Es ist der normale Wahnsinn. Und es ist phänomenal, dass sich Thomas durch alle Hürden hindurchkämpft, dass er seinen Weg in sich spürt und im Lauf der Jahre lernt, die Hindernisse als das zu sehen, was sie sind – Hindernisse, an denen man wächst. Im Buch steht nichts darüber drin, ob das Kind nicht vor Einsamkeit im Internat, vor Sehnsucht nach der Familie geweint hat. Ob er seine Übungen immer gern gemacht hat oder ob ihm nicht die Beine abgefallen sind vom Stehen. Der Alltag war mit Hürden gespickt, allein die körperlichen Probleme müssen bewältigt werden und das war mit Sicherheit nicht einfach. Wie soll man denn einen Knopf im Aufzug drücken, wenn man nur bis zur Notfalltaste reicht? Wie zieht man sich an mit Armstummeln? Von diesen Alltagssorgen weiß man, man denkt es sich. Eben. Man hat keinen blassen Schimmer, wie oft der Junge vom Hocker vor dem Waschbecken gefallen sein mag. Es spielt keine Rolle mehr, heute fällt er nicht mehr runter. Aber das alles sind Erfahrungen und Lebensspuren, die prägen.
Genau mit diesem Kampfgeist schafft es Thomas Quasthoff, die Absage der Musikhochschule zu verkraften. Heute muss man nicht mal mehr Klavier spielen können, um Gesang zu studieren. Er studiert also privat bei Charlotte Lehmann und ihrem Ehemann weiter und muss so mühsam selbst mit Elternhilfe finanzieren, was anderen auf dem Serviertablett zugereicht wird. Auch das Erfahrungen, die im Nachhinein betrachtet kostbar sind.
Von unten bis hinauf an die Weltspitze hat sich Thomas Quasthoff hochgearbeitet, ausgestattet mit einer Stimme, die er virtuos beherrscht und wie ein Instrument betrachtet. Liedgesang ist sicherlich die Stütze seines musikalischen Schaffens, aber Brüder wären nur die Hälfte wert, wenn sie nicht für Ausweitung des Blickwinkels sorgten. Jazz ist für Thomas Quasthoff ein weiteres Betätigungsfeld und was ihn sonst noch prägt, ist ein messerscharfer Blick auf die Welt. Wenn Sie eine herrlich erfrischende, packende und treffende Analyse bundesrepublikanischen Lebens und Kunstschaffens der letzten 40 Jahre lesen wollen, kommen Sie an diesem geistreichen Buch kaum vorbei.
Künstler werden von ihren Kollegen mitgeprägt. Bei Thomas Quasthoff ist das nicht anders. So erzählt er in seinem Buch auch von den Musikern, mit denen er gearbeitet hat, mal besser, mal schlechter, aus den sicher in Unmengen vorhandenen Anekdoten werden einige endlich erzählt. Immer wieder taucht die Familie auf, Ankerplatz, Auftanken und Rückzugsmöglichkeit.
Ich habe das Buch nicht alleine gelesen. Ich habe es vorgelesen. Der ganzen Familie, bei den Mahlzeiten. Wir haben gebrüllt vor Lachen. Wir waren gebügelt von der Sprache, vom Esprit, von der Klugheit, die aus den Zeilen spricht. Wir sind mit dem Dreirad ebenso mitgefahren wie in Hotelzimmern und auf Bühnen dabei gewesen. Wir haben geklatscht, als Thomas Quasthoff zum ersten Mal den Schritt auf die Opernbühne wagt und die Diskographie bestaunt. Und alle waren sich einig: Lieber Thomas Quasthoff! Falls Sie mal in Würzburg gastieren – wir stellen Ihnen ein Bier kalt. Herzliche Einladung!
csc

Auch Lebensretter kommen mal an ihre Grenzen

Ludovic Roubaudi: Die Feuerwehrfrau. Roman. Aus dem Französischen von Gaby Wurster. Leinen, mit Schutzumschlag und Lesebändchen, 240 Seiten. 18,80 Euro. Schirmer-Graf Verlag. ISBN 3-86555-014-2.

nach oben Malavoie ist DER Feuerwehrmann schlechthin. Er ist keine Schönheit, aber er hat alles, was man sich nur wünschen kann, vor allem eines – die Feuerwehruniform. Wer in so einer Uniform steckt, hat von vornherein gewonnen. Ansehen, Ruhm, Autorität, Bewunderung, Macht, Träger dieser Uniform sind Götter, denn sie riskieren Tag für Tag ihr eigenes Leben, um anderes zu retten. Malavoie ist so ein Gott und er weiß es. Das ist schon mal seine Grundeinstellung, das erwartet er auch von seiner Umwelt. Zudem ist es leider so, dass er so erfahren ist, dass er auch am Lenkrad des Feuerwehrautos genau weiß, was zu tun ist, wenn es in einer Wohnung brenzlig riecht, aber nirgendwo auch nur der Hauch eines Feuerchens zu sehen ist. Gern fährt er die Stadtautobahn auch mal in Gegenrichtung, um seinem Löschzug den Triumph zu gönnen, als Erste am Brandort zu sein. So einem Macker macht keiner was vor. Keiner.
Alles könnte ewig so weitergehen. Malavoie holt Pythons aus Kloschüsseln, macht Frauen glücklich, ist der Erste bei einer Massenkarambolage, blickt durch und hat alles im Griff inklusive der harten Männertruppe um ihn herum. Aber weil eben auch Malavoie vom Schicksal geprüft werden soll, schickt ihm selbiges den schlimmsten denkbaren Fall: Die Feuerwehrbrigade von Saint Germain in Paris bekommt einen neuen Hauptmann, Schichtwechsel bei Oberbossens. Das wäre zu verkraften, die Vorgänger hat man auch erfolgreich weichgeklopft. Dieser Hauptmann aber ist anders. Sehr anders. Dieser Hauptmann ist nämlich blöderweise eine Frau.
Ab sofort ist alles ein Problem. Malavoie ist auf der einen, Kommandantin Métrono auf der anderen. Schon am ersten Tag läuft alles schief, Malavoie hat es gleich versiebt und kriegt eine volle Breitseite. Aua! Das darf man mit einem Macho nicht machen! Fortan gibt es zwei Lager in der Feuerwehr. Das ist tödlich, denn gerade hier kommt es auf ein perfektes Team an. Jeder Tag wird eine neue Herausforderung, ist ein Zweikampf zwischen Métrono und Malavoie. Es muss sich erst zur Krise zuspitzen, bis klar ist: die beiden ergänzen sich ideal, was die Arbeit betrifft. Das wird allerdings erst dann so richtig deutlich, als Métrono zwangsversetzt wird, ein Befehl, den sie nicht zuletzt Dank Malavoies kontraproduktivem Handeln aufgedrückt bekommt. Am Ende haben sie sich zwar ausgesöhnt, aber es gibt keine rechten Sieger, irgendwie haben alle ein wenig verloren, wenn auch mit Anstand und einer originellen Abschiedsgeste.
Der Weg ist weit, bis Macho Malavoie weichgekocht ist. Bis dahin nimmt der Leser an rasanten Einsätzen teil und erfährt endlich mal, was bei der Feuerwehr eigentlich gedacht und getan wird. Und er hockt quasi in der Uniformjacke, wenn die Herren ausgehen. Olala! Was man schon immer über die Götter in Uniform wissen wollte – Roubaudi hat es schnörkellos und frei von der Leber weg erzählt.
Frisch wie eine Riesenladung kaltes Wasser an einem heißen Sommertag, spritzig eben!
csc

Agape, Philia und Eros – die reife Liebe zum Leben. Kein Werk, das Grenzen sprengt

Peter Schellenbaum: JA aus Liebe. Hingabe, die Grenzen sprengt. 200 Seiten, Hardcover. 17,95 Euro. Kösel-Verlag. ISBN 3-466-36652-6.

nach oben Ich hatte mich sehr auf diese Lektüre gefreut und auf eine Weiterführung der Gedanken des so erfolgreichen „Das Nein in der Liebe“ (vor 21 Jahren erschienen). Dann musste ich feststellen: Hinter „JA aus Liebe“ steht kein weiteres Buch von Peter Schellenbaum – es handelt sich vielmehr um ein langes Interview, das die Journalistin Ingeborg Szöllösi mit ihm geführt hat.
Dieses Gespräch greift alle Themen auf, über die Schellenbaum bisher geschrieben hat. Dabei kommen die beiden oft vom Hölzchen auf Stöcks’chen – das Glück des Buchlesers, auf einen spannenden, weiten Gedankenbogen mitgenommen zu werden, stellte sich bei mir selten ein. Bert Brecht, Stefan Zweig, Adalbert von Chamisso, Teilhard de Chardin, Edith Piaf und der Song „All by myself“ werden zitiert – und vor allem der Autor selbst: Den einzelnen Kapiteln [Liebe, Selbsterkenntnis, Hingabe, Konflikte, Eros, Gesellschaft, Energie, Sexualität, Spiritualität und Therapie] sind, teilweise ganzseitig, Zitate aus früheren Büchern Schellenbaums vorangestellt.
Auf den letzten 30 Seiten kommt es zu der erhofften neuen Dimension: Im Kapitel „Spiritualität“ geht es um Religion, Rückbindung, um Nächstenliebe (was ist das? Was ist es nicht?) und es wird deutlich, dass das „JA aus Liebe“ eine reife Liebe zum Leben meint, die Agape, Philia und Eros umfasst. Schellenbaum spricht in diesem Zusammenhang auch über das Verhältnis zwischen Therapeut und Therapiepartner. (Nicht Klient – dann wäre die Beziehung zu sehr eine geschäftliche, nicht Patient – dieser Ausdruck würde ein Gefälle zwischen Gebendem und Bedürftigem beinhalten.)
„JA aus Liebe“ ist nicht das Grenzen sprengende Werk, welches der Titel und das Buchcover in buddhistisch anmutendem Farbwirbel erwarten ließen. Aber jeder Leser wird Gedanken finden, die ihn anregen und weiterbringen.
fs

Aus dem Alltag einer Domina

Simone Schönfuss: Laut und deutlich. Autobiographie. 286 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 19,80 Euro. Wenz-Verlag. ISBN 3-93771-01-9.

nach oben Schoenfuss Simone Schönfuss erblickte 1962 in einem kleinen Städtchen im Schwarzwald das Licht der Welt. Sie wächst geliebt und behütet auf. Die Liebe verschlägt das „Landei“ nach Berlin – eine Stadt, die im damals noch geteilten Deutschland auf die frische junge Frau wie ein Schock wirkt. Berlin ist eine Großstadt und die erste Wohnung ein heruntergekommenes Loch, Heimweh plagt Simone Schönfuss. Doch sie ist hart im Nehmen und beißt sich durch, von einem Job zum anderen springt sie mutig auf jeden fahrenden Zug und kommt ordentlich herum. Sie lebt sich ein und lernt bald auch die Vorzüge der Stadt kennen.
Eines Tages ist es wieder mal soweit – der Job nervt und Simone sucht sich etwas Neues. Sie landet als Telefonistin in einem Dominastudio und das ist eine gänzlich unbekannte Welt. Von der Telefonstelle wächst Simone rasch auch in die Arbeit im Studio hinein, aus der schüchternen Frau wird eine selbstbewusste Domina, die an Rollenspielen Gefallen findet.
In ihrem Buch „Laut und deutlich“ berichtet Simone Schönfuss von ihrem langen Weg aus dem Schwarzwald bis hin in die diversen Dominastudios, in denen sie gearbeitet hat. Es ist ein doppeldeutiger Titel, denn was Simone Schönfuss erzählt, berichtet sie durchaus laut und deutlich, aber laut und deutlich müssen auch die Sklaven sprechen, die sich Lady Schönfuss als Herrin ausgesucht haben.
Die Leser begleiten Simone Schönfuss ins Urlaubsparadies Malediven, wo sie ihre Auszeiten nimmt, rast mit ihr und den Kolleginnen aber auch durch Londons Nachtszene und erfährt von ihrer Leidenschaft für Tattoos. Doch das ist nicht alles – Simone Schönfuss gerät bis an die Grenzen ihres Lebens. Ein Beinaheabsturz des Ferienfliegers ist der Auftakt einer Reihe von Ereignissen, die die Autorin an den Rand des Todes bringen; extremer Schlusspunkt ist ein Suizidversuch. Hier ist die Wende in ihrem Leben, es wartet ein neuer, langer und schwieriger Weg auf die energiegeladene Lady.
Laut und deutlich ist mehr als eine Autobiographie. Es ist ein Appell für mehr Toleranz, für das Leben und leben lassen, für die Akzeptanz des Anders-seins. Natürlich berichtet Simone Schönfuss vollkommen offen über ihren Berufsalltag, das ist nichts für schwache Nerven und zartbesaitete Fräuleins, aber es zeigt die Realität und ist ein mutiges Bekenntnis zugleich.
Heute arbeitet Simone Schönfuss nicht mehr als Domina, sie hat eine neue Lebensrichtung für sich gefunden. Wer die mutige Lady kennt, weiß, dass sie alle ihre Wege immer schwungvoll beschreiten wird und sich nie scheut, die nächste Abzweigung zu nehmen und wieder etwas ganz und gar Neues zu erfahren.
csc

Ein Arzt aus altem Schrot und Korn

Helmut Siecke jr.: Der unvergessene Doktor. Ernstes und Heiteres aus dem Leben eines Landarztes. Biographie. 130 Seiten mit zahlreichen Abbildungen, gebunden mit Schutzumschlag. 22,50 Euro. Medu-Verlag. ISBN 3-937791-07-8.

nach oben Siecke Helmut Siecke, 1899 geboren, wird Landarzt in Lippe. Er erlebt Kriegs- und Friedenszeiten und engagiert sich mit ganzem Herzen für das DRK. Der Autor, Sohn von Helmut Siecke und selbst Mediziner, schildert in diesem Buch das Leben seines Vaters mit seinen Höhen und Tiefen und stellt dem Leser eine Persönlichkeit vor Augen, wie man sie heute leider kaum mehr findet. Menschen mit einem gewaltigen Wissen, nicht nur auf ihrem eigenen Fachgebiet, sondern mit der Fähigkeit beschenkt, dem anderen nicht nur auf sein Symptom, sondern direkt in Herz und Seele zu blicken und so, zielsicher in der Diagnose, hilfreich eingreifen zu können und mitunter sogar Lebensweichen neu zu stellen.
Helmut Siecke hat die Biographie, die ein beredtes Zeugnis der erlebten Zeit gibt, mit zahlreichen Anekdoten aus dem abwechslungsreichen Leben seines Vaters angereichert und entführt den Leser so in eine Welt, in der Tuberkulose und andere Krankheiten noch ein Todesurteil waren und die moderne Apparatemedizin vollkommen in den Kinderschuhen steckte. Damals musste sich ein Arzt auf sein Wissen, seine Intuition und im Notfall auch auf seinen Mut und den unbeugsamen Willen, den Patienten von der Schippe des Todes zu holen, verlassen. Ein Zeitdokument, aber zugleich auch die Geschichte eines Menschen, der seinen festen Platz im Herzen der Patienten und der Familie für alle Zeiten erobert hat.
csc

Aufrecht gehen lernen

Konstantin Wecker: Tobe, zürne, misch dich ein! Widerreden und Fürsprachen. Hrsg. von Hans-Dieter Schütt. 224 Seiten, broschiert, mit zahlreichen Fotos. 12,90 Euro. Eulenspiegel Verlag. ISBN 3-359-01478-2.

nach oben Anfang 2003 machte sich Konstantin Wecker gemeinsam mit Friedensaktivisten auf den Weg in den Irak. Begleitet haben ihn die Schwanengesänge der Kritiker, die in dieser Reise einen PR-Gag sahen. Nun hat dort ein Krieg stattgefunden, der Tag für Tag seine blutige Fortsetzung findet. Die Aufzeichnungen von Konstantin Wecker über Bagdad sind mittlerweile Zeitzeugnisse, die Menschen, die er traf, leben vielleicht nicht mehr oder sie haben in ihre Träume die Leiden des neuen Alltags mitgenommen.
Es ist nicht nur die Reise im Jahr 2003, die das Buch wiederspiegelt. Die Ereignisse vom 11. September 2001 werden ebenso reflektiert wie Weckers langer Weg nach Bagdad, seine Gedanken, seine Notizen, Tagebucheinträge, kleine Splitter, notiert gegen das Vergessen. Reden, Liedtexte, Interviews und Aufrufe versammelt das Buch zwischen seinen Deckeln und es ist ein Buch, das traurig macht, nachdenklich, wenn man in die Gesichter der abgebildeten Menschen schaut und dort die Geschichten lesen kann, aber es erweckt auch heiligen Zorn, der nicht zerstörerisch ist, sondern enorme Kräfte freisetzen kann, wenn man ihn in die richtigen Bahnen lenkt.
Wecker war nie der Typ, der den Mund gehalten hätte, wenn es um Unrecht geht. Er hat sich nie gescheut, Wahrheiten irgendwann doch auszusprechen, sie zu sehen und dann mit aller Kraft dagegen anzugehen, dass man vor diese Wahrheiten ein Schamtüchlein hängt. So wird Wecker mit diesem Buch zum Anwalt der Menschen, die er kennen gelernt hat, er nutzt seine Stimme als Sprachrohr und sorgt mit altbekannter und zum Glück nach wie vor starker Kraft wie Zeus mit dem Donner dafür, dass man aufmerksam wird.
Menschen in unserem Land haben es gut, sie sind vom Krieg verschont, es gibt für alle genug Nahrungsmittel und Dinge, die man zum Leben so brauchen kann. Aber das macht träge, egoistisch, kapselt ab und so bleiben die Tränen ungesehen, das leise Rufen ungehört, eine Mauer des Schweigens lässt alles an sich abprallen.
Faszinierend am Buch ist die Vielfalt der Erlebnisse. Sprache ist für Wecker wesentliches Ausdrucksmittel und in seinen Tagebucheinträgen geht er bis auf philosophischen Grund, durchdenkt, analysiert, lässt auch mal die Emotionen hochschießen, zügelt sie aber wieder auf ein vernünftiges Maß, das ein angemessenes Handeln ermöglicht. Wecker ist konsequent und radikal menschlich, gegen jedes Dogma, lebendig im besten Sinne. Und er ist ein sehr kritischer Beobachter. Wer keine Lust hat, nur stillschweigend dazusitzen und zu klagen „Ach, was könnte ich nur tun“, sollte sich in die Lektüre vertiefen, aber nicht vergessen, hinterher die Ärmel aufzukrempeln. Hilfe fängt ganz winzig an. Jeder kann etwas tun, vom Kleinsten bis zum Ältesten hat jeder die Möglichkeit, in dieser Welt etwas zu bewegen. Damit die Welt für alle ein kleines bisschen besser wird und Tränen nur noch aus Freude geweint werden.
csc

Vom Privileg, reich und schön zu sein

Katharina Wille-Gut. Leben an der Goldküste. Aus dem Tagebuch einer Privilegierten. Roman. Broschiert, 192 Seiten. Zytglogge Verlag. ISBN 3-7296-0684-0.

nach oben Ha, das wird garantiert ein Aufjaulen geben an der berühmtem Goldküste, jenem Streifen Land bei Zürich, an dem die Reichen und Schönen wohnen. Genau die, die eine goldene Kreditkarte haben, einen Landrover fahren, um damit vor angesagten Boutiquen in der Zürcher Innenstadt einzuparken, damit sie dort in Ruhe mal für ein paar normale Monatsgehälter dünne Fetzchen erstehen, in denen sie auf der nächsten Party gut ausschauen. Wir alle kennen sie, die Reichen und Schönen, Gazetten leben ebenso davon wie Klatschmagazine und jeder, der nicht in diesen Kreisen verkehrt, schwört, dass er auf so einen Nobelratzkram gut verzichten kann, aber gar nichts dagegen hätte, wenn eines Tages ein reicher Mann, Wohnort Goldküste, um die Hand anhielte und man wäre drin in diesem Exklusivzirkel, in dem die Themen Facelifting, Therapie und möglichst gute Beziehungen Smalltalk ausmachen. Diese überwiegend Frauen haben alle massenhaft Zeit, denn die Ehemänner sind gestresste Manager und in ihrem Haushalt stehen nicht nur die besten Küchengeräte nobler Designer, sondern auch ein paar hilfreiche Hände, die wissen, wie man diese seltsamen Dinger auch bedient, die die Rosen ausputzen und die missratene Brut zum Tennismatch chauffieren. Natürlich ist das Haus an der Goldküste nur eines, man hat Chalets in angesagten Wintersportorten und all das, wovon Lieschen Müller, die mit der Regionalbahn zur Arbeit fährt (im Stehen), träumt.
Frau Wille-Gut, selbst offenbar ein Insider, lehnt sich ganz schön weit aus dem Fenster, da wird es aber ein Heulen und Wehklagen geben in der Goldküstenbevölkerung, einem seltsamen Stamm, der dennoch durch gezielte Kreuzung stets ausreichend Nachwuchs hervorbringt und sich wohl behauptet in seinem feindlichen Umfeld. Wer mag sich schon gern in die Designerschublade gucken lassen!
Hilfe, was findet Frau Wille-Gut nicht alles heraus! Nina, um 40, muss die schrecklichste aller denkbaren Erfahrungen machen – ihr holder Ehemann Eric, nahe 50, sperrt ihr die Kreditkarte und schickt sie wegen Kaufsucht zum Psych! Das ist der ultimative GAU. Logisch. nun muss Nina zu diversen Tricks greifen, damit die peinliche Situation nicht auffällt (wir lernen gern und hätten vor allem den Drink-Trick probiert, aber unsere Freunde sind dazu leider viel zu primitiv, schade!!). Und aus der Wut über ihren Ehemann, der ihr DAS antut und als Reaktion auf die unerträglichen Fragen des Psychs passiert Nina ein ziemlicher Einbruch. Wir erleben das schrittweise Abwerfen enger Häute, denn Nina begreift: was sie als Freiheit erachtet hat, war ein enger, goldener Käfig, der den Menschen in Zwänge stürzt, ohne die er eine Chance hat, zu sich selbst zu kommen. Je „normaler“ Nina wird, desto kritischer sieht sie ihr Umfeld und eines Tages schafft sie es, selbst was zu arbeiten. Ihre Idee hat Erfolg und Nina mausert sich vom Goldküstenbewohner zur gewieften Unternehmerin.
Mit Ninas Wandlung ändert sich auch das Verhältnis zu ihren in allen Varianten neurotischen Freundinnen, sie kann diese Welt des Scheins nach und nach hinter sich lassen und ermöglicht sich so einen wahrhaft selbst erarbeiteten Lebensweg, während rings um sie die alte Welt in Trümmer fällt – wobei manche Trümmer eher Steinchen sind, andere hingegen existenziell.
Es ist für alle Schlüssellochgucker, die neidisch vor dieser Welt stehen, eine Offenbarung, die Tür weit aufgerissen zu bekommen – aha, sie haben es ja schon immer gewusst. Es ist aber auch eine Erkenntnis, dass diese Welt mehr Nach- als Vorteile hat und es sehr mühsam ist, in dieser rein auf optische Reize und Getue ausgelegten Lebensrealität eigene Werte aufzubauen. Nina gelingt das und die Mäuschen, die nun immer noch gern schön, reich und berühmt wären, dürfen die Botschaft mitnehmen: lieber arm und fröhlich als reich und dermaßen eingeengt, dass einem selbst ein Designerjäckchen nicht den Eindruck von Zwangsjacke nimmt. Liebe Frau Wille-Gut, falls Sie Asyl brauchen – welcome.
csc

Ein reines Lesevergnügen!

Silke Wojtowitz: Die Chaosnadel. 354 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag. 19,80 Euro. Wenz-Verlag. ISBN 3-937791-18-3.

nach oben Die Chaosnadel Die Doktorandin Sirina erholt sich auf der Halbinsel Sirmione am Gardasee. Als begeisterte Höhlenkletterin erweckt ein schmaler Felsspalt in der Nähe des Scaligerkastells ihre Neugier. In der Nacht und Nebel dringt sie ein, nicht ahnend, dass sie damit eine Katastrophe auslöst, die die Welt mit Unwettern, Erdbeben und Vulkanausbrüchen überzieht.
In Sirmione überschneiden sich die Lebenswege verschiedener Menschen – Sirina und der Museumswächter Vittorio, die Vulkanforscher Aric und Nigel, die von ihrem Institut beauftragt wurden, vor Ort Ursachenforschung zu betreiben, und zwei Angehörige der Mailänder Umweltbehörde, von denen einer ein düsteres Geheimnis mit sich herumträgt. Sie alle Menschen verbindet die Suche nach der Ursache der Katastrophen, aus unterschiedlichsten Beweggründen, die entgegengesetzter nicht sein könnten.
Aric und Sirina freunden sich an, und ihre Reise zur Rettung der Welt führt sie um den Erdball bis Neuseeland. Erst dort wird ihnen das Ausmaß, die überraschende geistige Dimension des Geschehens auf dem Erdball, klar und als sie in Lebensgefahr geraten, müssen sie sich in ihr Schicksal ergeben.
Silke Wojtowitz’ Buch von der Chaosnadel packt den Leser von der ersten Seite an. Die Story schreitet rasch voran, die Lebensfäden der einzelnen Personen werden geschickt miteinander verknotet. Einige der Figuren geraten nicht nur in Lebensgefahr, sondern müssen auch ihr gesamtes Weltbild verändern. Von Szene zu Szene leidet der Leser mit, verspürt er die Panik Sirinas, die sich an den Ereignissen schuldig fühlt, sitzt er mit vor Messgeräten, die Daten übermitteln, die kaum nachvollziehbar sind. Neben der eigentlichen Geschichte um die Chaosnadel verbinden sich auch die Schicksale einzelner Figuren untrennbar miteinander, so dass das Webmuster erst im hinteren Teil des Buches erkennbar wird.
Fiktion, und doch für uns mit Erdbeben, Hochwasserdramen und Tornados auch in Europa erschreckend realistisch. Kein Buch für „Vor dem Einschlafen“-Leser, sondern packender Lesestoff für die Tage, an denen man ungestört abtauchen will. Von allem etwas – Spannung, Abenteuer, Intrigen, Liebe, Irdisches und Himmlisches, ausgewogen und ein Lesevergnügen bis zum Schluss. Bis zum Showdown in einer neuseeländischen Höhle aufreibend, und selbst danach ist Aufatmen keineswegs angesagt.
csc

Unterfränkische Impressionen? Mitnichten!

Würzburger Stadtschreiber: unentdeckt. 131 Seiten, broschiert. 9,80 Euro. Verlag Peter Hellmund. ISBN 3-9808253-5-3.

nach oben Hellgrün ist der Umschlag und gänzlich schlicht. Auf grünem Grund liest es sich in Weiß: entdeckt. Darunter in Schwarz: Würzburger Stadtschreiber. Auf den dritten Blick erst sieht man vor dem „entdeckt“ ein zartgrünes „un“ – so ist es. Unentdeckt schlummern in vielen Kellern, Speichern, Schubladen, Schränken und nicht zuletzt Köpfen wunderbare Dinge. Nicht nur Sachen, die man anfassen kann, sondern vor allem Geschichten. Geschichten sind es, die dem Kind die Welt ins Zimmer bringen, die es träumen lehren, aus denen es Rat und Unterstützung bekommt auf dem Weg in die Erwachsenenwelt. Geschichten sind es, die uns „leidgeprüfte Erwachsene“ entführen aus dem Alltagstrott. Ohne Geschichten wäre das menschliche Leben trist, grau und monoton.
Geschrieben wird überall auf der Welt, wenigstens mit Worten gemalt. Erstaunlicherweise auch in Unterfranken, einem Landstrich, den man gemeinhin mit trockenem Wein, romantischen Fachwerkhäuschen, Mainschleifen und dem Mozartfest verbindet. Das ist richtig. Doch zwischen Residenz und Marienburg gibt es eine heimliche Gegenwelt, die der Schreiberlinge, der Wortartisten. Da wird gereimt, geschildert, große Poesie aufgefahren oder der banale Alltag wie mit einem falsch herum gehaltenen Fernglas aufgespießt. Eigentlich wie überall auf der Welt. Aber nicht überall traut sich ein Verlag und gibt heimischen Autoren unterschiedlichster Couleur Platz zwischen den Pappdeckeln, die die Buchwelt bedeuten. Peter Hellmund hat das Experiment gewagt und unterschiedliche literarische Facetten vereint: Alltags- und Nachtgeschichten, Gereimtheiten, Erinnerungen, Lyrik, Kurzgeschichten und Essays leben friedlich in ihrem leuchtendgrünen Buch miteinander und zeigen: In Unterfranken wird geschrieben, keiner muss sich verstecken, es ist Platz für viele unterschiedliche Stimmen. Nichts von „der Prophet im eigenen Land gilt nichts“ – für die Würzburger Stadtschreiber trifft das nicht zu. Sie haben eine Stimme, die anzuhören lohnenswert ist, denn im Mikrokosmos findet sich der Makrokosmos.
Sehr schön gestalteter Band, jedem Autor ist eine Seite mit seinen persönlichen Angaben vorangestellt, so bleiben die Autoren nicht anonym, sie schreiben nicht nur, sondern sie haben auch ihre je eigene Geschichte.
Würzburger sind überall. Und Würzburger Autoren hoffentlich bald auch.
csc